Wahlen ohne Maurer und Blocher

So, bevor es ernst wird mit der Schmied-Nachfolge (ich tippe auf Maurer, aber ich hätte vor einem Jahr auch Schulden aufgenommen für eine Wette gegen Blochers Abwahl), will ich noch kurz etwas zu den letzten beiden Urnengängen sagen.

  • Ich ging mit relativ nüchternen Gefühlen in die US-Präsidentschaftswahl. Zu sicher war ich über Obamas Sieg (Am Dienstagabend liess sich die Schweizer Bevölkerung sehr leicht in zwei Gruppen einteilen: Jene die 10vor10 schauen und jene, die schon mal was von Wahlmännern gehört haben). Am Mittwoch morgen war ich trotzdem völlig erschüttert und schon fast optimistisch. Ich glaube nicht, dass Obama nun den Weltfrieden bringt – aber ich bin überzeugt, dass er einer der ganz grossen Präsidenten werden wird. Und dass er das Ansehen des Präsidentschafts-Amt in neue Höhen heben kann (für das Ansehen der USA braucht es dann ein bisschen mehr, aber immerhin ein Prä-Bush-Level scheint mir durchaus möglich).
  • Wer es noch nie gesehen hat: Ich glaube, dass es schlicht für alle sinnvoll ist, zumindest die zwei wichtigsten Obama-Reden mal anzusehen (Youtube-Links): Obama zum Rassismus und Obama am DNC 2004. Diese Reden werden früher oder später mal zum Pflichtstoff zumindest im Gymer-Geschichts-Lehrplan gehören.
  • Und damit es auch mal noch gesagt ist: Wil Shipley – innerhalb der Mac-Programmier-Szene einer der ganz grossen (wenn auch nicht unumstrittenen) – hat in meinem Halbgötter-Ranking deutlich zugelegt (die Seite zeigt nur den Tag an, nicht das Jahr: Shipley stellte sich im Januar 07 hinter Obama, einen Monat bevor dieser seine Kandidatur ankündigte).

Auf der zwar deutlich weniger relevanten Seite, die mich aber halt schon noch etwas mehr beschäftigt: Minus! Vier! Sitze!

Übel

Schmerzhaft

Und dann noch die Hanf-Initiative und Verjährungs-Initiative und überhaupt.

Aber: Auch wenn 4 verlorene Sitze überaus schmerzen, so bin ich nicht niedergeschlagen. Überhaupt nicht. Diese Wahlen haben das Potential, die städtische Politik zu stärken – die Chancen stehen etwa 50-50 für eine sehr produktive und einer völlig unbrauchbare Legislatur. Erst mal aber die Fakten:

  • Die Gemeinderats-Wahlen brachten das beste RGM-Ergebnis aller Zeiten. Die Bürgerlichen gingen völlig unter. FDP und SVP wurden für das Hügli-Manöver bestraft. Regula Rytz und Alex Tschäppät wurden sehr stark gewählt, aber weder wurde Edith Olibet übermässig für den PR-GAU in der Sozialmissbrauchs-Debatte bestraft, noch ist der GFL-Kandidat unten rausgefallen. Ich kann mir kein besseres GR-Resultat vorstellen.
  • Die Stapi-Wahl war ebenso erfreulich. Wer den Stimmenanteil mit 2004 vergleicht, vergisst, dass auf der Gegenseite damals Wafa gestanden hat welcher null Wechselwähler holte. Klar, das gute Abschneiden von Alex ist auch auf den katastrophalen Wahlkampf von Hayoz zurückzuführen, aber trotzdem. Starke Leistung.
  • Und Nein: Die positive Euro hatte nichts damit zu tun. Eine negative Euro wäre schwierig geworden, aber Zusatz-Stimmen holt man nicht über solche Events. Der durchschnittliche Schweizer Wähler begreift nun halt mehr von der Politik als der durchschnittliche Politologe, auch wenn er dies nicht weiss.
  • Leyla Gül wurde mit einem sehr guten Resultat neu in den Stadtrat gewählt. Way to go.
  • Die Rechten haben einen Sitz verloren.
  • Geht man von einem krass vereinfachenden und schwammigen Links-Rechts / Progressiv-Konservativ Schema aus, so sind folgende Mehrheiten möglich: Links-Konservativ, Links-Progressiv und Rechts-Progressiv. Rechts-Konservativ hat nie eine Mehrheit. Das war auch schon anders.
  • Die Rechten haben mehr Panaschierstimmen an die Mitte verloren als wir.
  • RGM hat bezüglich Panaschierstimmen sowieso den Blocktreueren Wähler als alle anderen.
  • Die Listen ohne Listenbezeichnung gingen überdurchschnittlich an RGM, fast so stark wie an die Blockfreie Mitte. Für Unabhängige bleiben die Bürgerlichen unwählbar.
  • Wenn MCW und Konsorten Panaschierstimmen interpretieren, so sehen sie: Die GFL-Wählerschaft ist deutlich näher an SP/GrüBü als an den Blockfreien.
  • RGM hat zwar (nachdem wir endlich GPB und PdA rausgeschmissen haben) keine Mehrheit mehr (39 Sitze), ist aber nah dran. Bei normalen Geschäften muss es möglich sein, 1-2 aus Linksaussen oder der Blockfreien Mitte auf unsere Seite zu ziehen.
  • Wenn die GFL bockig tut, hat Links-Grübü-Rot-Mitte immer die Mehrheit. Die völlig absurden Sololäufe der GFL haben keine Wirkung mehr, wenn die anderen in der Mitte bei einem Geschäft dabei sind.
  • Wenn MCW und Konsorten Panaschierstimmen interpretieren können sehen sie: Ihre Wählerschaft ist deutlich näher an SP/GrüBü als an den Blockfreien.
  • SP/GB können kaum noch Geschäfte im Alleingang durchbringen (30 Sitze). Auch mit guter Sitzungsdisziplin sind ideologische Amokläufe kaum noch möglich.
  • Die Gemeinderats-Parteien sind im Stadtrat weiterhin in der Mehrheit. Die Kombination SP/GB/FDP – absurder, als es sich anhört – kommt auf 40 Sitze.
  • Was wir an die Mitte verloren haben, entspricht in etwa dem, was wir von der Mitte vom LdU abgesogen haben. Langfristig bleibt der Schwank von Bürgerlich zu RGM.
  • Die Rechte Seite ist mit mittlerweile 7 Parteien aufgeteilt denn je – 7 Parteien die sich zwischendurch von einander abgrenzen werden und wo man entsprechend einzelne kehren kann.

Dies was die Zahlen angeht. Wer Zahlenwüsten liebt, darf natürlich gerne meine Excel-Sheets runterladen, inkl. Panaschier-Analyse Listen & Kandidaten, Block-Analysen und Historischer Entwicklung. Von Bedeutung sind insbesondere die Sheets ListenBloeckeStimmen und Entwicklung: Stadtrats-Analyse resp. im alten Excel-Format (allerdings mit etwas weniger Informationsgehalt): Stadtrats-Analyse Excel 97 (und nein: die CVP ist nicht Mitte. Weder auf städtischer noch auf schweizerischer oder sonst einer Ebene. Wenn sie ausnahmsweise mal den Bürgerblock verlässt, so tut sie dies entweder aus purem Populismus oder durch der Nause-Spasspartei-Masche und in genau einem Fall pro Legislatur stimmt Herr Beuchat aus Überzeugung mit uns, und dann ist dafür die Linke Seite nicht einig)

Wahlenanteile Berner Stadtrat

Was mir aber wirklich am Herzen liegt, sind nicht die Zahlen, sondern die Inhalte. Ich predige bekanntlich seit 2000, dass es Zeit wird, dass RGM die Mehrheit verliert. Die Mehrheit tut uns nicht gut – wir verlieren die Kritikfähigkeit, werden von Pressure-Groups vereinnahmt, es schleicht sich eine Überheblichkeit ein und vor allem: Wie verlieren das Auge für den Ausgleich. Wenn Nathalie Imboden am Wahlabend im Telebärn ziemlich wortwörtlich sagt, dass der Linke Block keine Blockpolitik betreibe und gerne mit den anderen zusammenarbeite, solange wir uns dafür nicht bewegen müssen, so ist dies ernst gemeint; und das macht es noch schlimmer.

Das einzige Mal, dass RGM in einem gewichtigen Geschäft eigene Hauptforderungen zurückgezogen hat, war die 2. Lesung der Gemeindeordnung. Und auch die ist immer noch ziemlich links. (Und ja: Noch länger als meine RGM-Tut-Die-Mehrheit-Nicht-Gut-Parole vertrete ich die Die-Stadtbernischen-Bürgerlichen-Sind-Weder-Regierungsfähig-Noch-Regierungswürdig-Parole)

Die GFL – bei allem was sie Unzuverlässig macht, bei allem wo sie nicht den Gewerkschaften folgt, bei allem wo sie sich einfach produziert – teilt unsere Grundwerte. Die Linken Grundwerte waren seit 1996 in der Mehrheit, in den zwei letzten Legislaturen sogar komfortabel. Dies führte dazu, dass die Linke schlicht in allen Grundsatz-Entscheiden gewann, ohne auf die Grundwerte der anderen Rücksicht nehmen zu müssen, und ohne Rücksicht zu nehmen.

Dies ist schlicht nicht mehr möglich. Grundsatz-Entscheide müssen per sofort auch nicht-Linke Grundwerte befriedigen. Und dafür müssen wir nicht einmal den Bürgerlichen Parkplätze und Steuersenkungen geben! Es genügt, wenn wir der Mitte mehr entgegenkommen als die Bürgerlichen dies tun (und die bewegen sich bekanntlich nicht einen Millimeter, solange Sie keine Autobahn auf oder unter dem Bahnhofplatz und eine Steuersenkung auf Goldküsten-Niveau erhalten). Es genügt, wenn wir mit der Mitte sprechen, diskutieren, Lösungen zulassen, die für uns ideologisch nicht ganz koscher sind, und auch mal auf etwas verzichten können.

Die Mitte ist kein monolithischer Block wie wir oder die Bürgerlichen dies sind. Die Mitte ist auch nicht programmatisch gefestigt und fixiert, die Mitte will bekanntlich gar kein Programm haben – gerade die Hügli-Liste, aber auch GLP und in gewissem Sinne auch die GFL basieren ja darauf, dass eine programmatische Fixierung immer auch etwas Ideologisches an sich hat.

Wenn zu den 39 Stimmen von RGM keine 2 Stimmen von Linksaussen geholt werden können, sollte es in aller Regel möglich sein, 2 Stimmen aus der Mitte zu holen, es muss ja nicht immer gleich eine ganze Fraktion sein. Mitte-Parteien sind stolz darauf, wenn sie keine Fraktionsdisziplin haben, denn für Fraktionsdisziplin braucht es die Überzeugung, dass die Parteimeinung die einzig richtige ist. Und zu guter letzt: Noch selten gab es derart viele Ratsmitglieder, die nicht in eine erfahrene Fraktion reinrutschen oder wenigstens eine starke politische Bildung aus ihrer Partei mitbringen. GLP, Mitte-Forum, BDP und Hofer/Schneider haben noch nicht jedes Thema einmal durchdiskutiert und dürften offen sein für überzeugende Argumentarien.

Dies ist für mich das schöne Szenario: SP und GB, welche alleine nicht mehr stark genug sind, müssen Kompromisse eingehen, echte Verhandlungsbereitsschaft zeigen und zwischendurch auch mal andere Grundwerte akzeptieren. Im Gegenzug bringen wir unsere Geschäfte durch und scheitern weder am, weil wir wieder mal ein bisschen pressiert haben, noch an der Urne, weil wir auch unter der Autobahnbrücke einen Wohnanteil von 30% durchziehen wollten.

Das schlechte Szenario: Alle Parteien wollen sich nur noch gegenseitig abgrenzen. Zeigen, weshalb man in 4 Jahren nicht diese elende Blockpartei von GFL sondern die wirkliche Mitte GLP wählen soll. Demonstrieren, dass die GFL in Wahrheit nicht Links ist und man in 4 Jahren gefälligst wieder uns Sozis oder zumindest das GrüBü wählen muss. Zeigen, dass man als Forum die einzig wahre Mitte ist, indem man mit dem Milchbüchlein in der Hand schön abwechslungsweise einmal mit der Linken, einmal mit der Rechten geht. Lieber in ideologische Schönheit untergehen als einen unschönen Kompromiss schliessen (und sich dann auch daran halten). Und ja nie die Grundwerte in den Hintergrund drängen lassen, denn die zeichnen uns ja gegenüber diesem Gesocks von Wischiwaschi-Mitte-Parteien aus.

Im ersten Szenario sehe ich eine Deblockierung der städtischen Politik, und schlussendlich eine stärkere weil weniger von der Mehrheit korrumpierten Linke. Im zweiten Szenario sehe ich eine Erstarrung, hässliche Grabenkämpfe und in vier Jahren eine noch schlimmere Wahlschlappe für die staatstragende Partei (die zufälligerweise auch gleich noch eine der ideologischsten ist).

Beide Szenarien sind möglich, was rauskommt wird man frühestens in einem Jahr abschätzen können. Am Wahlabend habe ich recht viel in Richtung Abgrenzung gehört. Aber ich hoffe jetzt einmal auf die Vernunft und auf die schweizerische Lust am Konsens, sowohl von uns Linken wie von der Mitte (und wer weiss, vielleicht lernen es die Bürgerlichen auch noch einmal).